morgenzug in den sueden
einführungsrede zur ausstellung
Als ich von Leena Krüger gefragt wurde, ob ich die Einführung zu Ihrer Ausstellung „Morgenzug in den Süden“ halten würde, habe ich spontan zugesagt. Und dies, obwohl ich weder ein ausgewiesener Kunstsachverständiger noch ein versierter Redner bin. Als Freund und als jemand, der seit vielen Jahren das Werk Leena Krügers kennt und schätzt, wollte und konnte ich mich ihrer Bitte nicht entziehen. Ob dies ein Fehler war, werden wir alle in wenigen Minuten wissen.
Da Sie sehnlichst darauf warten, in aller Ruhe in diese wunderbare Bilderwelt einzutauchen, gehe ich gleich in medias res und lasse Sie für einige Minuten einfach an meinen Gedanken teilhaben.
Der Ausstellungstitel „Morgenzug in den Süden“ konfrontiert uns sogleich mit einer Flut an eigenen Bildern und Assoziationen. Es geht, obwohl das wörtlich im Titel gar nicht vorkommt, natürlich ums Reisen. Nur sehr poetisch veranlagte Pendler würden davon sprechen, dass sie den „Morgenzug in den Süden“ nehmen – von Göttingen nach Kassel etwa.
Aber warum mit dem Zug, wo so viele Reisen heute mit dem Flugzeug unternommen werden? Vielleicht aus dem einfachen Grund weil wir vom Zug aus mehr sehen, es sei denn wir fahren bei Nacht oder durch einen Tunnel? Vielleicht weil die Strecke, die zwischen A und B liegt, unseren Ausgangspunkt und das Ziel nicht trennt, wie beim Fliegen, sondern verbindet? Weil wir uns dadurch während der Reise nicht in einem Niemandsland befinden, sondern zu jeder Zeit in Land- und Ortschaften. Während heute die Reise meist erst als solche am Zielpunkt wahrgenommen wird und das davor, der Reiseweg selbst, nur als Transport.
„Morgenzug in den Süden“ ist aber, wie Leena Krüger mir erzählt hat, ein Satz, den Sie in Ihrer Heimatstadt im Norden Finnlands oft gehört hat, und der für sie zu einer Chiffre für das Woanders-sein-wollen, zur Chiffre für alle unsere Sehnsuchtsorte geworden ist. Und nun wird auch klar, warum die Reise in den Süden führt. Vom Norden Finnlands aus lässt es sich nach Norden, Osten und Westen nicht allzu weit reisen. Wer dort etwas ganz anderes sehen und erfahren möchte, muss notgedrungen gen Süden. Und anders als wir beim ersten Lesen des Titels gedacht haben mögen, geht es also gar nicht um beispielsweise mediterrane Ziele, sondern universell um das für uns Andere.
Und da es sich um so etwas wie eine Redewendung handelt, dürfen wir das Transportmittel Zug als Platzhalter nehmen für alle Arten von Transportmitteln, die uns eine Reise zu einem Sehnsuchtsort ermöglichen: Zu Fuß oder mit dem Fahrrad, mit der Bahn oder auf einem Schiff, im Auto oder im Flugzeug oder – in Gedanken, mit unserer Phantasie.
Reisen hat mit Entfernungen, mit Räumen zu tun. Und mit der Zeit, die wir für eine solche Reise benötigen. Der Raum um uns verändert sich, aber auch die Zeit. Leena Krüger hat in ihren Bildern die Räume und die Zeit eingefangen – in Momentaufnahmen, in Eindrücken, wie wir sie beim Blick durch das Fenster eines Zuges oder Autos einfangen und vielleicht mit der Fotokamera unseres Smartphones festhalten wollen. Auf einem solchen Foto sehen wir dann, wie sich die Landschaft draußen, in mehreren Ebenen unterschiedlich gegeneinander verschiebt. Im Vordergrund verwischen Büsche oder Masten, im Hintergrund scheint der Horizont ganz unbeeindruckt von unserer Fortbewegung. Und nur dazwischen lässt sich in der Verschiebung das Reisen von A nach B so wahrnehmen, dass unser Gehirn das auch verarbeiten kann.
Leena Krügers „Morgenzug“ ist, wie mir scheint, in vielen der Bilder hier, ein sehr früher Morgenzug. Das, was als Gesehenes Eingang in diese Bilder gefunden hat, liegt oft in einer Art Nebel, der aber auch ein Nebel sein kann, den die Erinnerung über die Bilder gelegt hat oder eine Unschärfe, die von der schnellen Bewegung herrührt. Damit sind wir gezwungen, zu rekonstruieren, zu dechiffrieren, was uns die Künstlerin im Bild anbietet. Sind da Schienen oder ein Zaun zu sehen? Sind da Bäume oder Menschen?
In jedem Fall müssen wir uns zunächst orientieren und zurechtfinden, denn was wir sehen könnte auch zusammengesetzt sein aus dem da draußen und der Spiegelung des Innenraumes im Fenster, durch das wir nach draußen schauen.
Was mich an Leena Krügers Arbeiten immer besonders angesprochen hat, ist eine Reduktion, durch welche die möglichen Assoziationen vervielfältigt werden. Aus dem Weniger wird bei ihr für mich immer ein Mehr. Konkretisierende Bildtitel würden mich eher einschränken, die möglichen Assoziationen auszuloten. Insofern bin ich auch dankbar, dass der Ausstellungstitel nur einen Rahmen vorgibt, einen ersten Denkanstoß. Und wie wir gesehen haben, hat schon dieser einfache, aus nur wenigen Wörtern bestehende Halbsatz so seine Untiefen, die es auszuloten gilt.
In diesem Sinne wünsche ich Ihnen eine gute Reise.
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Rudolf Schmitt ist Geschäftsführer der Basta Werbeagentur GmbH in Göttingen.